Was ist „der (wahre) Islam“?
In der Diskussion um den Islam hört man oft die Feststellung „DEN Islam gibt es nicht“.
Ich halte diese Aussage für unangemessen. Warum? Weil die Frage falsch ist. Und bei einer falschen Frage kann nichts Richtiges herauskommen.
Vergleich mit der Situation im Christentum
Versuchen wir doch mal, diese Aussage auf christliche Verhältnisse zu übertragen. Wir können also fragen: „Gibt es DAS Christentum“? Die Antwort darauf lautet ja und nein. Das hängt sehr davon ab, wie die Frage gemeint ist. Im Christentum gibt es (wie in jeder Religion hinreichender Größe) unterschiedliche Ansichten. Im christlichen Bereich hat sich dafür der Begriff „Konfession“ bzw. „Bekenntnis“ durchgesetzt. Das ist ein Resultat der protestantischen Reformation. Nach langem Streit hat man sich damals darauf geeinigt, dass es nur einen christlichen Glauben gibt, aber diesen in verschiedenen Ausprägungen, eben den Konfessionen/Bekenntnissen.
Und natürlich gibt es „DAS“ Christentum. Es besteht einfach aus dem, was die christlichen Kirchen gemeinsam vertreten. Und das ist eine ganze Menge. Die Gemeinsamkeiten sind höher als die Unterschiede.
Wahres Christentum
Eng verwandt damit ist die Frage nach dem „wahren“ Christentum. Gibt es das überhaupt? Und wenn ja: welche Konfession ist das? Das nun ist ein weites Feld, zu dem jede Konfession ihre eigene Antwort hat. Und doch ist es irgendwie immer die gleiche. Sie lautet: wenn es das überhaupt gibt, dann sind wir das. Und die anderen sind eben irgendwie neben der Spur. Die einen mehr, die anderen weniger.
Dennoch gibt es innerhalb der Christenheit eine gemeinsame Überzeugung, dass auch die anderen Konfessionen irgendwie mit dazugehören. Davon ausgenommen sind höchstens einige Randguppen wie z.B. die Zeugen Jehovas.
Kann man das wahre Christentum herausfinden?
Ganz grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass man so eine Diskussion nur INNERHALB einer Religion führen kann.
Zur Illustration: wir sperren einen Katholiken, einen Orthodoxen, einen Lutheraner, einen Methodisten, einen Baptisten, einen Pfingstler und einen Adventisten in einen Raum und die sollen darüber diskutieren, welches Christentum das wahre ist. Das ist schon mal spannend zuzuschauen.
Und jetzt schicken wir noch einen bisher in christlicher Hinsicht völlig ahnungslosen Atheisten als Schiedsrichter rein. Dem drücken wir am besten noch eine Bibel in die Hand und sagen ihm, er solle mal die Frage entscheiden, welches Christentum das wahre ist.
Ich meine: diese Aufgabe ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Warum? Weil dieser Atheist gar nicht weiß, nach welchen Kriterien man innerhalb der Christenheit die Frage nach Wahrheit entscheidet. Darüber sind sich ja noch nicht einmal die christlichen Konfessionen einig. Das fängt ja schon bei der Frage an, ob nur die Bibel als Argument zählt (Adventisten, Lutheraner), oder ob man die Tradition auch mit in Betracht ziehen darf oder gar muss (Katholiken).
Anhand von ein paar Bibelversen, die man diesem Atheisten womöglich noch zuwirft, kann der das gar nicht entscheiden. Er müsste sich mit Fug und Recht vorhalten lassen, dass er den biblischen Kontext dieser Verse gar nicht kennt.
Es gibt übrigens eine Reihe von Webseiten, die genau diese Schiene betreten. Sie nehmen einzelne Verse, vornehmlich aus dem alten Testament, und meinen, damit den christlichen Glauben in ihrer Gänze ad absurdum führen zu können. Und jeder Christ, der seine Bibel auch nur halbwegs kennt, könnte diesen Atheisten erklären, dass sie den Kontext dieser Verse überhaupt nicht beachtet haben.
Was bedeutet das nun für die Diskussion über den Islam?
Nach dieser Vorrede: gibt es nun „DEN“ Islam? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Von außen leicht zu erkennen ist jedenfalls, dass es verschiedene Richtungen innerhalb des Islams gibt. Die beiden wichtigsten sind die Sunniten und die Schiiten. Sie unterteilen sich in eine ganze Fülle von Richtungen, die man auf Deutsch als „Rechtsschulen“ bezeichnet.
Von außen betrachtet sind sie aber allesamt Varianten des Islams. Und es ist von außen betrachtet auch kaum möglich, die Unterschiede zwischen diesen „Islamen“ zu benennen. Jedenfalls nicht, ohne sehr tief in die Theologie einzusteigen. Mir, um ein persönliches Beispiel zu nennen, ist es bisher noch nicht einmal gelungen, den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten zu verstehen. Und ja: ich weiß, da geht es um die Frage nach der Rechtsnachfolge von Mohammed. Mir erschließt sich aber nicht, wieso das nach 1400 Jahren noch von Belang ist. Erst recht nicht könnte ich als Außenstehender entscheiden, ob die Shiat Ali (also die Partei Alis, die Schiiten) Recht hat, oder nicht.
Und in dieser Situation wollen wir als Außenstehende jetzt entscheiden, was „der (wahre) Islam“ ist? Freunde, das ist aussichtslos. Davon bin ich mittlerweile überzeugt.
Das ganze hat zwei wichtige Anwendungen.
Zitatsammlungen
Zum einen (und das stört mich besonders) in Hinsicht auf gewisse Kreise, die sich an einzelnen Koranversen hochziehen und all diejenigen Muslime als Lügner (wörtlich!) hinstellen, die ein friedliches, demokratisches Verständnis ihrer eigenen Religion haben. Ich betrachte das mit großer Sorge. Wie soll man den Koran richtig auslegen, wenn man die Prinzipien korrekter Koranauslegung gar nicht kennt und wenn man den Kontext dieser Verse noch nicht einmal in Ansätzen versteht? Diese Listen findet man im Internet häufig. Und sie sind oft so wörtlich gleich, dass sie offensichtlich mit Copy&Paste verbreitet werden. Ich nehme mir heraus, diesen Leuten vorzuwerfen, dass die allermeisten von ihnen diese Verse noch nie selbst nachgeschlagen haben. Und das sage ich ganz bewusst und unabhängig von der Frage, ob diese Verse so zu verstehen sind, wie es der erste Eindruck vielleicht nahelegt. Es gibt Muslime, die diese Verse anders verstehen, und das ist deren gutes Recht. Und von diesen Muslimen gibt es zum Glück eine ganze Menge.
Alles ist gut?
Auf der anderen Seite hat es eine direkte Anwendung in Hinsicht auf all diejenigen, die sagen, Islamismus habe „mit dem Islam nichts, aber auch rein gar nichts zu tun“. Hier muss ich feststellen: doch! Ganz offensichtlich gibt es einen radikalen Randbereich des Islams. Und die machen das aus voller theologischer Überzeugung! Und wer sind wir Außenstehende, das jetzt zu entscheiden, dass diese Auslegung des Islams nicht dazugehört? Nein, das steht uns nicht zu. Insbesondere deshalb nicht, weil diese Fraktion innerhalb des Islams weltweit einen erheblichen Einfluss hat und mit diesem Einfluss Millionen von Christen zum Teil massiv verfolgt. Das Problem mit diesem Randbereich ist, dass er zu groß ist, um ihn mit einem „alles ist gut“ beiseite zu wischen.
Was heißt das für uns
Für uns Nichtmuslime kann das nur heißen: Unser Umgang mit dem Islam in Europa muss zwingend um diese Bandbreite wissen. Und für uns Christen muss es auch heißen, dass wir das Leid unserer Glaubensgeschwister in der islamischen Welt kennen müssen. Und es heißt auch, dass wir Wege finden müssen, diesen Christen beizustehen.
Das ist der Bereich, wo uns der Islam direkt und persönlich betrifft. Den Rest müssen die Muslime unter sich ausmachen.
Wer vorübergeht und sich mengt in fremden Streit, der ist wie einer, der den Hund bei den Ohren zwackt. (Bibel, Sprüche 26,17)