Barmherzigkeit oder Opfer – zur Diskussion um die „Pille danach“


Der Bundesrat hat sich dieser Tage dafür ausgesprochen, dass die „Pille danach“ rezeptfrei in Apotheken erhältlich sein sollte. Hierzu meldet sich nun Hartmut Steeb, einer der prominentesten Evangelikalen Deutschlands, in einem idea-Artikel
zu Wort. Steeb ist Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz und Vorsitzender des Treffens Christlicher Lebensrecht-Gruppen. Gegenüber idea nannte er die Forderung des Bundesrats „völlig inakzeptabel“. Er redete von „Vernichtung menschlichen Lebens“ und behauptete

Durch die Freigabe des Medikamentes würden Frauen verstärkt dem Druck ihrer Freunde ausgesetzt, „das Kind wegmachen zu lassen“.

Auch nach mehreren preußischen Nächten bin ich darüber noch immer erbost. Den Zustand der evangelikalen Bewegung betrachte ich zunehmend mit Sorge.

Zum medinzinischen Hintergrund
Die „Pille danach“ ist sehr sorgfältig von der Abtreibungspille RU-486 zu unterscheiden.
Letztere führt zum Öffnen des Muttermundes und zur Ablösung der Gebärmutterschleimhaut. Da wird tatsächlich menschliches Leben vernichtet.

Die „Pille danach“ hat eine ganz andere Wirkung. Es handelt sich bei ihr um eine hochdosierte Antibabypille. Sie behauptet, dass im weiblichen Körper schon eine Schwangerschaft vorliegt. Sie behindert den Eisprung und beeinträchtigt den Weg der Spermien zur Eizelle. Sie verhindert damit mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt eine befruchtete Eizelle entsteht.

Die „Pille danach“ wirkt natürlich nur dann, wenn sie möglichst schnell eingenommen wird. Am ersten Tag kann sie rund 90% der Schwangerschaften verhindern, am dritten Tag nur noch 60%. Bestehende Schwangerschaften werden von ihr nicht beendet.

Weil die „Pille danach“ schnell an Wirkung verliert, wenn zuviel Zeit verstreicht, ist es wichtig, dass diese schnell zur Verfügung steht. Bisher ist sie verschreibungspflichtig, aber nachts oder am Wochenende ist ein Arzt oft schwer zu erreichen, deshalb der Plan, dieses Medikament auch ohne Rezept in der Apotheke abzugeben. Die nötige Beratung kann auch ein Apotheker übernehmen. Darum geht es in der Bundesratsinitiative.

Wozu braucht man diese Pille?
Zunächst einmal bei sexuellen „Missgeschicken“ wie technischen Schwierigkeiten bei Kondomen. Die moralisch wichtigste Anwendung ist aber bei Vergewaltigung. Und hier ist die „Pille danach“ ausgesprochen wichtig. Eine Vergewaltigung ist an sich schon schlimm. Eine Schwangerschaft nach Vergewaltigung aber ist die ultimative Demütigung: ein Kind großzuziehen, das einen jeden Tag an die Tat erinnert.

Gott sei Dank für die „Pille danach“!
An sich könnten Christen dankbar sein, dass es ein Medikament gibt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindern kann, dass überhaupt eine Eizelle befruchtet wird. Das ist wichtig, zunächst einmal für die betroffenen Frauen, aber auch generell für die Lebensrechtsbewegung.

Jeder, der sich gegen Abtreibung einsetzt kennt das: Man zeigt Fotos oder ein Modell eines einige Wochen alten Fötus und jeder Gesprächspartner stimmt zu, dass dies ein schützenswerter Mensch ist.

Man kann dann auch noch argumentieren, dass einvernehmlicher Sex, eine gute Gabe Gottes(!), die Nebenwirkung einer Schwangerschaft haben kann und dass man dann für dieses kleine Wesen Verantwortung übernehmen muss. An dieser Stelle kommt dann vom Gesprächspartner mit hoher Regelmäßigkeit der Einwand „aber was ist mit Vergewaltigung“. Dies ist das wichtigste Einfallstor für die Forderung, Abtreibung überhaupt zu erlauben. Wer hier abhelfen könnte, der könnte den Abtreibungsbefürwortern ganz viel Wind aus den Segeln nehmen.

Vernichtung menschlichen Lebens?
Aber Hartmut Steeb und den Lebensrechtlern reicht dies nicht. Aus dem idea-Artikel:

Nach allen Erkenntnissen der Medizin sei eine frühabtreibende Wirkung des Medikaments nicht auszuschließen. Es trüge damit zur Vernichtung menschlichen Lebens bei.

Frühabtreibende Wirkung? Gemeint ist, dass die „Pille danach“ möglicherweise in einzelnen Fällen dazu führt, dass sich eine Eizelle nach der Befruchtung nicht in der Gebärmutter einnisten kann. Ob dies geschehen kann, oder nicht, ist unter Fachleuten umstritten. Es kann wohl nicht mit 100%-iger Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Es ist aber höchstens der Ausnahmefall, denn die Einnistung erfolgt etwa ab dem 5. Tag nach der Befruchtung und die Erfolgsquote der „Pille danach“ nimmt schon nach zwei vollen Tagen massiv ab.

Aber allein schon diese Möglichkeit ist für Hartmut Steeb Grund genug, diese Pille vehement abzulehnen. Er legt damit den Opfern von Vergewaltigung die moralische Verpflichtung auf, nichts gegen eine noch ausstehende Befruchtung ihrer Eizelle zu unternehmen und das dann erst entstehende Kind auch noch auszutragen.

Der „Schutz menschlichen Lebens“ wird damit noch auf die Zeit vor der Befruchtung ausgedehnt. Die mögliche Verhinderung einer Einnistung weniger Eizellen ist wichtiger als die Angst, die Sorge und die Zukunft von vielen Opfern einer Vergewaltigung. Ich finde das schlimm. Es ist in der Abtreibungsdiskussion ein moralisches Eigentor und es bringt den Lebensschutz in Deutschland auch keinen einzigen Millimeter voran. Es ist der breiten Masse unserer Bevölkerung nicht vermittelbar und in einer Demokratie werden Gesetze von Mehrheiten gemacht.

Gewissensfreiheit – aber für wen?
Auch der Bundesverband Lebensrecht berichtet in einer Presseerklärung von derselben Veranstaltung. Dabei wird gefordert

dass Ärzte und Apotheker (nicht nur in kirchlichen Einrichtungen) uneingeschränkte Sicherheit haben und keine Nachteile befürchten müssen, wenn sie aus Gewissensgründen die Mitwirkung bei Verordnung oder Aushändigung der „Pille danach“ ablehnen.

Das ist natürlich eine problematische Forderung. Wer als einziger diensthabender Arzt die Nachtschicht in einem Krankenhaus auf dem Land hat, oder wer als Apotheker den einzigen nächtlichen Notdienst im Umkreis von vielen Kilometern hat, und dann aus Gewissensgründen einer Frau nach einer Vergewaltigung nicht hilft, der hat den falschen Arbeitsplatz. Ein ähnlicher Fall ging im Januar 2013 durch die Presse, als zwei katholische Krankenhäuser die gynäkologische Untersuchung eines Vergewaltigungsopfers ablehnten. Diese katholischen Krankenhäuser haben damals alle frommen Christen in Misskredit gebracht. Und nun fordert der BVL ein Recht der Ärzte und Apotheker, Vergewaltigungsopfern nicht beizustehen, ganz so als hätte es die damalige langanhaltende Diskussion in der Öffentlichkeit nicht gegeben.

In demselben Artikel fordert der BVL die „Konsequente Neuausrichtung an der Menschenwürde“ und schafft es dabei, die Notlage der Frauen mit keinem einzigen Wort zu erwähnen. Das Gewissen von Ärzten und Apothekern hat hier wohl Vorrang vor dem Gewissen der betroffenen Frauen. Ich halte das für unglaubwürdig.

Mücke oder Elefant? Frauen in einer Notlage sind die falsche Zielgruppe
Wenn Hartmut Steeb wirklich der Auffassung ist, dass es tatsächlich Mord ist, (und so muss ich jemanden verstehen, der von „Vernichtung menschlichen Lebens“ spricht) einer befruchteten Eizelle möglicherweise die Einnistung in der Gebärmutter zu verweigern, dann sollte er nicht gegen die „Pille danach“ schießen, sondern sich erst einmal um die normale Antibabypille kümmern. Auch über diese wird immer wieder behauptet, dass sie möglicherweise Einnistungen verhindert. Auch das Verhütungsmittel der Spirale wäre ein wichtigeres Ziel als die „Pille danach“. Immerhin bezieht die Spirale einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung darin, befruchteten Eizellen den Aufenthalt in der Gebärmutter zu untersagen.

Beide, die Antibabypille und die Spirale werden in Deutschland millionenfach eingesetzt und in jedem Zyklus besteht da die Chance „menschliches Leben zu vernichten“. Wer befruchtete Eizellen schützen will, sollte sich erst darum kümmern, bevor er Frauen in einer Notlage moralisch unter Druck setzt.

Barmherzigkeit oder Opfer?
Als Christ(!) will ich mich in dieser Frage nicht mit Hartmut Steeb oder dem Bundesverband Lebensrecht solidarisieren, denn sie legen dieselbe Geisteshaltung an den Tag, die Jesus den Pharisäern vorgeworfen hat. In Matthäus 12,7 sagt er

Wenn ihr aber erkannt hättet, was das heißt: „Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer“, so würdet ihr die Schuldlosen nicht verurteilt haben.

Schuldlos? Ja, schuldlos! Und was ist, wenn im Einzelfall tatsächlich eine befruchtete Eizelle daran gehindert wird sich einzuisten? Ist das dann schon, wie Hartmut Steeb es nennt, Vernichtung menschlichen Lebens, nur weil diese Eizelle das Potenzial hat, sich zu einem Fötus zu entwicken? Ich meine nein.

In Levitikus/3. Mose 17,11 findet sich ein wichtiger biblischer Grundsatz, was Leben ist:

„des Leibes Leben ist im Blut“

Aus diesem Grunde durfte das Blut eines geschlachteten Tieres nicht mitgegessen werden: Genesis/1. Mose 9,4+5

Allein esst das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist!
Auch will ich euer eigen Blut, das ist das Leben eines jeden unter euch, rächen und will es von allen Tieren fordern und will des Menschen Leben fordern von einem jeden Menschen.

Ich möchte an dieser Stelle auch ausdrücklich darauf hinweisen, dass das hebräische Wort „nephesh“, das in diesen beiden Versen für „Leben“ steht, eine breite Bedeutung hat. Die beiden wichtigsten Bedeutungen sind Leben und Seele(!). In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, die noch in der Zeit vor Jesus erstellt wurde, steht in diesen Versen deshalb auch das griechische Wort „Psyche“, also zu Deutsch „Seele“.

Dieser biblische Zusammenhang ist durchaus unter den Evangelikalen bekannt. Ein Beispiel ist dieser Artikel von Dr. med. Peter Beck vom „Mitternachtsruf“, veröffentlicht auf der Webseite „Zeltmacher-Nachrichten“. Beck wendet sich hierbei gegen die Praxis der Organspende, den Spender für hirntot zu erklären und beruft sich auf genau dieses biblische Prinzip:

Spätestens seit wir erlebt haben, dass «hirntote» Frauen sogar Kinder ausgetragen haben, müssten wir unsere Diagnose und unser ganzes Gedankengebäude von Hirntod und Transplantation hinterfragen. Die Krankenkassen zahlen für die lebenden Organe eines Hirntoten. Erst nach dem Herztod sind auch alle Organe tot – dann bringt die Organtransplantation nichts mehr.
Gemäss 3. Mose 17 liegt das Leben jedes Fleisches in seinem Blut: «Denn die Seele des Fleisches ist im Blut» (3.Mo 17,11). Es heisst also nicht: Das Leben liegt in seinem Gehirn oder Kopf oder ähnlichem, sondern in seinem Blut. Das bedeutet auch: Erst wenn das Blut nicht mehr fliesst, ist der Mensch bei Gott tot. Dann erübrigt sich aber auch jede Transplantation, da dann die Organe auch nicht «angehen».

Fazit
Was heißt das für die befruchtete Eizelle? Hat sie einen moralischen Rechtsanspruch auf Einnistung? Nein, denn der Blutkreislauf wird erst etwa eine Woche später eingerichtet. Erst ab diesem Zeitpunkt gilt der Satz aus Genesis 9,5. Erst ab diesem Zeitpunkt zieht Gott uns Menschen für das Leben dieses Embryos zur Verantwortung. Erst ab diesem Zeitpunkt hätte Hartmut Steeb recht, wenn er von „Vernichtung menschlichen Lebens“ spricht.

Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen wir Christen, so wie Jesus es sagt, die „Schuldlosen nicht verurteilen“. Bis zu diesem Punkt müssen wir Barmherzigkeit üben, eine Barmherzigkeit, die ich übrigens sowohl bei Hartmut Steeb als auch beim Bundesverband Lebensrecht vermisse.

Heiko Evermann
Juli 2013

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