Der Anspruch der Neuen-Welt-Übersetzung
Die Autoren der NWÜ stellen an ihre Arbeit einen hohen Anspruch (Vorwort zur Interlinearübersetzung, Seite 10):
To each major word we have assigned one meaning and have held to that meaning as far as the context permitted.
Das ist ein gutes Ziel. Von jeder wortgetreuen Bibelübersetzung würde ich genau diese Vorgehensweise erwarten. Bei 1. Mose 1:2 wird dieses Ziel aber nicht eingehalten.
1. Mose 1:2 – Gottes „wirksame Kraft“
Die NWÜ schreibt (1. Mose 1:1+2), (Hervorhebungen von mir)
(1) Im Anfang erschuf Gott die Himmel und die Erde. (2) Die Erde nun erwies sich als formlos und öde, und Finsternis war auf der Oberfläche der Wassertiefe; und Gottes wirksame Kraft bewegte sich hin und her über der Oberfläche der Wasser.
Zum Vergleich die Elberfelder:
(1) Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. (2) Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.
Im hebräischen Urtext steht „ruach elohim“, „Geist Gottes“ und die NWÜ übersetzt dies an anderen Stellen auch genau so. 1. Mose 1:2 ist der einzige Vers in der ganzen Bibel, an dem die NWÜ zu der Umschreibung „wirksame Kraft Gottes“ greift. Wie versuchen die Übersetzer nun, diese Ausnahme zu begründen? Die Studienbibel der Zeugen Jehovas hat zu diesem Vers eine Fußnote:
Das Wort ruach wird nicht nur mit „Geist“ übersetzt, sondern auch mit „Wind“, sowie mit anderen Ausdrücken, die eine unsichtbare wirksame Kraft bezeichnen. Siehe 3:8, Fn. („Brise“); 8:1, Fn.
Aber auch diese Fußnote mit ihren Verweisen auf zwei weitere Fußnoten können dieses Rätsel nicht aufklären. Sicher, hebräisch „ruach“ hat zwei Bedeutungen, nämlich „Geist“ und „Wind“. Aber der „ruach elohim“ ist in der Bibel immer der „Geist Gottes“ und in 1. Mose 3:8 und 8:1 geht es um ganz andere Dinge. In 3:8 geht es um die abendliche kühle Brise im Garten Eden und in 8:1 geht es um den Wind, der nach der Sintflut aufkam um die Wasser zu vertreiben. In beiden Fällen geht es nicht um den „Geist Gottes“. Und in beiden Fällen geht es um einen buchstäblichen Wind und nicht um eine „wirksame Kraft“.
Gründe für die Abweichung
Wie kann man sich diese Abweichung erklären? Welche Gründe mögen die Übersetzer der NWÜ gehabt haben, gerade 1. Mose 1:2 zu verändern? Leider kann ich sie dazu nicht befragen. Meiner Meinung nach gibt es aber zwei wichtige Gründe für diese Sonderbehandlung von 1. Mose 1:2 und beide hängen sehr eng mit der (irrigen) Ansicht der Zeugen Jehovas über den Heiligen Geist zusammen. Ihrer Meinung nach ist der Heilige Geist eben keine Person, sondern nur eine unpersönliche Kraft.
Grund 1: 1. Mose 1:2 gehört zu den gängigen Beweistexten für die Dreieinigkeit
Es gibt eine Reihe von Texten, die von den Vertretern der Dreieinigkeitslehre häufig angeführt werden, um die Lehre von der Dreieinigkeit aus der Bibel heraus aufzuzeigen. Eine ganze Reihe dieser Texte werden in der NWÜ abweichend übersetzt und 1. Mose 1:2 gehört dazu. Dieser Vers ist deshalb interessant, weil hier alle drei Personen der Dreieinigkeit gemeinsam vorkommen. Gott schafft die Welt dadurch, dass er spricht (Vers 3: „Und Gott sprach“, Jesus ist nach Joh 1 das Wort Gottes) und der Heilige Geist ist mit daran beteiligt (Vers 2). Von daher überrascht es nicht, dass „ruach elohim“ gerade hier abweichend übersetzt wird. Andere Verse sind in diesem Zusammenhang nicht so wichtig, an andern Stellen wird einfach nur korrekt „Geist Gottes“ übersetzt. Wenn die Diskussion an der Haustür dann auf den Heiligen Geist kommt, dann sind die ersten Verse der Bibel ein Abschnitt, den auch die Menschen noch kennen, die ansonsten nicht regelmäßig die Bibel lesen, und ein Zeuge Jehovas kann dann sagen „in meiner Bibel steht das anders, sehen Sie mal, wenn man das richtig übersetzt, dann ist Gottes Geist keine Person sondern nur eine unpersönliche wirksame Kraft.“
Grund 2: 1. Mose 1:2 wird auch in der eigenen Literatur häufig zitiert
Die Schöpfung ist eine der zentralen Aussagen der Bibel und so wundert es nicht, dass dieser Vers in den Schriften der Zeugen Jehovas häufig zitiert wird. Dadurch, dass hier die (falsche) Lehre der Zeugen Jehovas direkt in den Bibeltext hineingeschrieben wurde, kann der Wachtturm diese Lehre nun mit einem Bibeltext „beweisen“. Ein Beispiel hierfür ist der Wachtturm von 15.7.2002 Seite 19 (Absatz 20)
Jesus beauftragte seine Nachfolger, Jünger zu machen, indem sie Menschen die Wahrheit lehrten. Eine Voraussetzung für die Taufe ist eine grundlegende biblische Erkenntnis. Taufbewerber müssen zum Beispiel die Stellung und die Autorität des Vaters und seines Sohnes, Jesus Christus anerkennen (Johannes 3:16). Sie müssen auch verstehen, dass der heilige Geist keine Person, sondern Gottes wirksame Kraft ist (1. Mose 1:2, Fußnote).
Zuerst wurde also der Bibeltext verändert und anschließend ist dieser veränderte Bibeltext ein Schriftbeleg für die Aussagen des Wachtturm. Dieser „Kniff“ wird in der Literatur der Zeugen Jehovas mehrfach verwendet. In ihrem Bibellexikon „Einsichten“ heißt es über den Heiligen Geist (Band 1 Seite 846)
Seine Rolle bei der Schöpfung. Jehova Gott erschuf das materielle Universum mit Hilfe seines Geistes oder seiner wirksamen Kraft. Über das Anfangsstadium des Planeten Erde heißt es im Bibelbericht: „Gottes wirksame Kraft [oder „Geist“ (ruach)] bewegte sich hin und her über der Oberfläche der Wasser“ (1. Mose 1:2)
Auch hier wird der manipulierte Text direkt aufgegriffen und es wird wieder die Behauptung vertreten, „ruach“ sei mit „wirksame Kraft“ korrekt übersetzt.
Noch ein Beispiel: der Wachtturm vom 15.1.1991 Seite 4
Doch was ist der heilige Geist dann? Er ist keine Person, sondern Gottes eigene wirksame Kraft, deren er sich bedient, um seinen Willen auszuführen (1. Mose 1:2). Aber inwiefern wird unser Leben vom heiligen Geist beeinflußt? Und wie können wir aus seiner Wirksamkeit größeren Nutzen ziehen?
Auch hier wird auf dieselbe Weise argumentiert: Gott ist keine Person, sondern nur eine unpersönliche Kraft und der Leser soll es anhand des Bibelzitats in seinem eigenem eigenen Exemplar der NWÜ selbst nachlesen. Dort findet der Zeuge Jehovas dann die veränderte Übersetzung vor, die sich mit dem Wachtturm deckt. Auf den ersten Blick sieht für den Wachtturmleser alles korrekt aus.
Die Fehlübersetzung von 1. Mose 1:2 leistet damit einen wichtigen Beitrag dazu, diese falsche Lehre, Gottes Heiliger Geist sei nur eine unpersönliche Kraft, tief im Denken der Zeugen Jehovas zu verankern. Meiner Meinung nach handelt es sich hier um eine vorsätzliche Verfälschung des Bibeltexts aus.